Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Freitag, 30. Oktober 2015

Rezension: Mädchen für alles (Charlotte Roche)



(Foto: FAZ)




Deutschland 2015

Mädchen für alles
Autorin: Charlotte Roche
Veröffentlichung: 05. Oktober 2015 bei PIPER
Genre: Schwarze-Komödie



"Lenk dich ab, Chrissi. Ich gucke mal, was es so gibt. Gebe den Suchbegriff  >>Rolex Oyster<< bei eBay ein. Ich kenne mich gar nicht aus, habe aber mal was von Oyster gehört, die sieht aus wie aus Perlmutt, und das finde ich schön. Hätte ich früher nicht zugegeben. Aber jetzt wird mein Herz weich, wegen der besonderen Umstände. Es gibt hier eine mit helllila Schimmer. So was Kitschiges würde ich mir normalerweise nicht erlauben, aber jetzt istz alles anders. Alles ist erlaubt, die letzten Tage. Schön, dass nur ich das weiß, dann kann ich es auch genießen, wenn die anderen das wüssten, würden sie es mir sicher versauen, mich traurig angucken und schrecklich anstrengende Gespräche führen. 2400 Euro. Oopsi! Ich kaufe mir die erste teure Uhr meines Lebens, sonst immer nur so beschissene kleine Flohmarkt-Damenührchen, ich esse auch aus dem gleichen Grund jetzt schon jeden Tag das teure Angussteak vom REWE, wo diese geilen kleinen Päkchen Pfeffermischung mit Salz dabei sind."
(Charlotte Roche, Mädchen für alles, PIPER Verlag)



Ist noch platz für ein drittes Tattoo auf Charlotte Roches rechten Unterarm? Könnte schwierig werden, wenn ich mir mal das Cover ihres neusten Romans "Mädchen für alles ansehe". Zumindest sollte sie etwas Platz dafür einplanen.

Charlotte Roche hatte sich nie konkret dazu geäußert, ob sie nach Schoßgebete einen weiteren Roman verfassen wird. Da ein Deal mit einem großen Verlag aber meistens mit einen Vertrag von mindestens zwei Büchern mit sich bringt, und Miss Roche auch aus rein kommerzieller Sicht gar keinen Grund hat, mit dem Schreiben aufzuhören, war ein dritter Roman durchaus denkbar.
Und genau so kam es dann auch. Beinahe in Ninja-Manier hat der PIPER Verlag Charlotte Roches neuen Roman veröffentlicht. Als ob sie ein Mädchen für alles gehabt hätten, das die Regale in den Buchhandlungen auffüllt (werde die 5 Cent gleich ins Schweinchen für Gags werfen, deren Verfallsdatum abgelaufen ist).

Da ich es genieße, Kundenrezensionen auf Amazon zu lesen, war ich wenig überrascht über die Bewertungen, die dort zu finden sind. Anscheinend hat man sich aber diesmal unter den Kunden auf folgendes geeinigt: "Also im Gegensatz zur restlichen Bevölkerung fand ich die Vorgänger richtig gut, aber mit Mädchen für alles hat Charlotte Roche dafür gesorgt, dass ich nie wieder ein Buch von ihr lesen werde". Ich bin mir sicher, sollte die Autorin einen vierten Roman bringen, wird man das gleiche über diesen schreiben. Und eines sollte ja mittlerweile bekannt sein, es hat grundsätzlich niemand die Bücher von Charlotte Roche gelesen, keiner hat die Filme gesehen, aber dennoch können irgendwie immer alle mitreden.

Doch worum geht es denn in Charlotte Roches drittem Streich? Bei genauerer Betrachtung kann man wohl Feuchtgebiete, Schoßgebete und Mädchen für alles als eine voneinander unabhängige Trilogie sehen. So handhabt man es ja bei Lars von Trier in der Filmwelt, so wird sein Dreierpack "Antichrist", "Melancholia" und "Nymphomaniac" liebevoll die "Depression Trilogy" genannt.
Als Ausgangspunkt kann man erneut Feuchtgebiete nehmen. Sehen wir Feuchtgebiete als das Hauptszenario an, könnten Schoßgebete und Mädchen für alles zwei verschiedene Routen im Leben der jungen Helen Memel darstellen, der Protagonistin aus Feuchtgebiete. Eine Route verläuft zu Schoßgebete, eine alternative Route führt zu Mädchen für alles. Denn, ganz ohne Frage, könnte in beiden Büchern eine erwachsene Helen die Protagonistin sein. Man kann allerdings nicht behaupten, dass auch nur irgendeine dieser beiden Routen besonders vorteilhaft für die arme Helen ausgegangen sind.

Die Geschichte in Mädchen für alles dreht sich um die Hausfrau Christine, die mit ihrem Jörg zumindest finanziell den perfekten Mann geheiratet hat. Als Jörgs kleiner Bruder in ihrem Haus seine Hochzeit feiert, wird Christine wieder einmal bewusst, wie eintönig und langweilig ihr Leben doch ist. Für die Gäste findet sie nur Verachtung und weiß schon gar nicht mehr, ob sie ihre herablassenden Gedanken denkt oder ausspricht. Aber es kümmert eh keinen, denn die Wodka-Melonen sind prall gefüllt und die Gäste sind abgefüllt, inklusive Chrissi selbst, die sich gleich direkt ganze Gläser heimlich mit Wodka zur feier des Tages auffüllt. In einem Gespräch hört Chrissi zu, wie sich Jörg mit einem anderen Gast unterhält, und dem zustimmt, sich bald eine Babysitterin zu suchen. Chrissi ist überrascht über die Pläne ihres Mannes, der Idee aber nicht abgeneigt. Töchterchen Mila soll also eine Babysitterin bekommen, und Chrissi, ohne dass es ihr in diesem Moment bereits bewusst ist, ein Mädchen für alles. Als die schöne Marie ihr Haus zum Vorstellungsgespräch betritt, ist nicht nur Ehemann Jörg von der jungen Medizinstudentin angetan, auch Chrissi wird schnell klar, dass diese Babysitterin ihr Ticket aus ihrem eintönigem Leben sein könnte.

Wer jetzt vielleicht denkt, Charlotte Roche könnte mit ihrem dritten Roman auf anspruchsvolle Weltliteratur umgestiegen sein, die bei Denis Scheck in Druckfrisch als Buch des Monats deklariert wird, der wird wieder einmal enttäuscht werden. Mädchen für alles legt den Fokus, und darüber bin ich sehr dankbar nach Schoßgebete, wieder voll auf Unterhaltung. Im Mittelpunkt stehen dabei wieder die unglaublich amüsanten, aber teilweise auch anstrengenden Selbstgespräche der Protagonistin. Der Humor ist pikant (jedoch längst nicht so pikant wie noch in Feuchtgebiete). Es ist, wie immer, ein spezieller Humor, den viele vermutlich einfach zu plump und intim finden werden.
Aber es ist tatsächlich dieses schnörkellose, lose Mundwerk der Autorin, das diesen sehr expliziten Stil ausmacht. So viel noch einmal zum Thema anspruchsvolle Weltliteratur.
Wie immer geht Charlotte Roche mit den teils surrealen Gedankengängen ihrer Protagonistin aber auch etwas zu weit. Oftmals baut sie wirre Wortkreationen ein, von denen ich noch nie etwas gehört habe und es mir vorkommt, als hätte eine pubertierende Vierzehnjährige in diesem Moment übernommen. War Charlotte Roche in Schoßgebete zu ernst, ist sie in Mädchen für alles schon wieder etwas zu verspielt.

Die ersten rund 100 Seiten deuten tatsächlich darauf hin, dass auch Mädchen für alles nach dem Feuchtgebiete/Schoßgebete Schema ablaufen wird. Allerdings hatte die Autorin diesmal wirklich einen recht perfiden Twist auf Lager, der mich schon relativ überraschte und meinen Gesamteindruck doch noch einmal wesentlich aufgewertet hat.


Resümee

"Mädchen für alles" ist ohne einen großen Knall erschienen. Es gab keinen Skandal vor der Veröffentlichung und auch nicht danach. Es ist beinahe so, als habe die deutsche Leserschaft längst das Thema um die ehemalige, verspielte VIVA Göre, die Autorin spielen wollte, abgehakt. Und trotzdem ist Mädchen für alles dennoch im Gespräch. Wer macht also etwas falsch? Charlotte Roche oder die Leser? Die Wahrheit, die sich hinter Mädchen für alles versteckt, ist kein skandalöses Buch wie es Feuchtgebiete noch war, oder aber ein depressiver Seelen-Strip (wie ihn Roche selber nannte) wie Schoßgebete. Mädchen für alles ist genau das, was es ist: Eine unterhaltsame, sehr schwarze Komödie, die ich, ganz besonders nach Schoßgebete, nicht von Charlotte Roche erwartet hätte. Bis auf wenige Aussetzer, wo die Autorin vermutlich wirklich geistig abwesend war, ist das Buch stilsicher geschrieben, hatte für mich einige Lacher zu bieten und ist extrem kurzweilig. Sollte es je ein Leser schaffen, sich unvoreingenommen an eines ihrer Bücher heranzuwagen, könnte es sogar sein, jener Leser könnte am Ende sogar ein ähnliches Fazit ziehen.

Wer also anspruchsvolle Literatur sucht, ist wie immer bei Charlotte Roche falsch. Wer kurzweilige Unterhaltung lesen will, wird einige Stunden beschäftigt sein. Als Abschluss einer Trilogie eindeutig ein bizarrer Höhepunkt. Damit sollte Roche dann aber auch mal zu einem Ende kommen. Sie schreibt, was man von ihr erwartet, vielleicht ist ihre Leserschaft auch mittlerweile zu abgestumpft nach allem, was sie so aufs Papier gebracht hat. Sollte sie sich noch einmal an einen neuen Roman wagen, hätte ich tatsächlich nicht einmal was dagegen, mal ein gewollt ernstes Buch von ihr zu lesen. In diesem Sinne, Cheers! Muss den Trick mit den Wodka-Melonen unbedingt mal ausprobieren.

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