Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Dienstag, 5. Juli 2016

Kurzrezension: Hanns-Josef Ortheil: "Die Erfindung des Lebens"


Es gibt viele Arten von guten Büchern und viele Wege, auf denen ein Werk den Leser in seinen Bann ziehen und überzeugen kann, sei es durch eine spannende Geschichte oder Charaktere, mit denen man sich identifizieren kann oder sich ihnen verbunden fühlt.
Die Erfindung des Lebens ist einer der schönsten Romane, die ich je gelesen habe und einer, bei dem ich mir wünschte, die Lektüre möge nie zu Ende gehen.
Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der alleine mit seinen Eltern in Köln lebt, die im Zweiten Weltkrieg und der Zeit danach all ihre anderen Söhne verloren. Der Junge ist nicht stumm, aber er spricht nicht, genauso wenig wie seine Mutter und so entwickelt er einen Weg, sich die Welt zunächst anders als über die Sprache anzueignen und Dinge zu erlernen. Es ist die Geschichte seiner langsamen Sprach- und damit Selbstfindung, die mich persönlich nicht mehr losließ, sodass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte. Er selbst erzählt uns als erwachsener Mann von seiner Kindheit, die ihn mit voller Wucht wieder einholt, seinen Bestrebungen, Pianist zu werden und wie er schließlich Schriftsteller wurde.
Vor allem fasziniert hat mich der Umgang Ortheils mit der deutschen Sprache, die er so unheimlich schön und wundervoll einsetzt und durch sie wunderbare Klangräume, Stadträume, Landschaften und Sprachräume erschafft, die sich zu einem wuchtigen Erzählteppich zusammenfügen, der fesselt und berührt.



"Nein, von mir erzählen kann ich einfach nicht, und natürlich ist auch diese Unfähigkeit eine Folge meiner frühsten Kindheit, als jede Frage an das stumme Kind mir wie eine Bedrohung erschien [...]. So gesehen, verfolgt mich meine Kindheit noch immer, ja, sie verfolgt mich, wohin auch immer ich gehe und obwohl ich gegen nichts so sehr anzukämpfen versuche wie gegen diese Verfolgung und gegen die Nachwirkungen, die mir von meiner Kindheit geblieben sind.
Der ausdauerndste und längste Kampf, den ich gegen diese Nachwirkungen führe, besteht in meinem Schreiben. All mein ewiges Schreiben, könnte ich nämlich behaupten, besteht letztlich nur darin, aus mir einen anderen Menschen als den zu machen, der ich in meiner Kindheit gewesen bin. Irgendwann soll nichts mehr an dieses Kind erinnern, irgendwann möchte ich Geschichten erzählen, die nicht mehr den geringsten Anschein erwecken, noch etwas mit meiner Kindheit zu tun zu haben. Bisher ist mir das selbst in mehreren Jahrzehnten noch nicht gelungen, auch wenn es bei manchen meiner Romane und Geschichten auf den ersten Blick so aussieht, als wäre ich meinem alten Thema endlich entkommen."
(Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens)

1 Kommentar:

  1. Die hervorragende Verwendung von Sprache genügt um mein Interesse zu wecken...sollte ich vielleicht einmal eine Chance geben. Schöner kurzer Einblick!

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